Psychologische Initiative

Es gibt in jeder Schachpartie zwischen zwei Menschen immer noch eine Ebene fernab der rein schachlichen Bewertung einer Stellung. Wer bestimmt das Geschehen? Wer drückt dem anderen den Zwang auf, sich zu verteidigen? Wer fühlt sich in der Stellung einfach wohler?
Solche Fragen und Gefühle überlagern das rein technische Denken wesentlich und führen oft zu kurios anmutenden Entscheidungen der Spieler. Dabei ist es eben ganz wichtig, selbst derjenige zu sein, der die Psychologische Initiative ausübt, der dem Gegner seinen Willen aufzwingt.
Naturgemäß kann man diese Faktoren nur bei eigenen Partien adäquat kommentieren, weshalb hier drei meiner aufregendsten Partien – mit unterschiedlichem Ausgang – folgen sollen. Ich danke ausdrücklich meinen Gegnern, dass wir nach den Partien noch ausführliche Analysen diskutierten, ohne die ich diese Eindrücke hier nicht aufschreiben könnte.

Binder – Weyers, Berlin 2011

Bild 1. Szene

Blicken wir auf nebenstehendes Diagramm. Weiß hat aus der Caro-Kann-Verteidigung heraus eine Art Tennison-Gambit gespielt. Nun droht Schwarz, mit h7-h6 den weißen Springer nach h3 zurück zu werfen. Wenn das gelingt, ist die weiße Eröffnung gründlich schief gegangen. Ich wusste, dass ich einer Theorieempfehlung gefolgt war. OK – nicht gerade Mainstream, aber wenn es so katastrophal enden sollte, hätte das "im Buch" gestanden. Die letzten Züge waren auf beiden Seiten mehr oder weniger forciert durch beiderseitiges Spiel gegen bzw. für den Bauern e4. Ich wusste also, dass ich nichts falsch gemacht hatte. Wenn ich aber nichts falsch gemacht habe, kann ich hier auch nicht auf Verlust stehen… es muss also eine Lösung geben. In diesem Wissen(!!) gelang es mir auch tatsächlich am Brett, eine Lösung für das scheinbare Stellungsproblem zu finden.
Wenn ich die Stellung meinen Schülern zeige, lasse ich immer zunächst auszählen, wie oft beide Spieler das Feld e4 kontrollieren. Die Lösung scheint klar: je dreimal. Ich bitte die Schüler dann, so lange nachzuzählen, bis nicht mehr 3:3 herauskommt. Meist ernte ich dafür ungläubiges Staunen, aber es klappt. Bevor Sie sich den Fortgang der Partie ansehen, zählen Sie bitte selbst nach…
Binder – Weyers, Berlin 2011, 1. Szene
Ich bin sicher, diese überraschende Wendung hat den weiteren Partieverlauf erheblich beeinflusst. Konnte Schwarz in der Diagrammstellung von einem leichten Sieg träumen, war er nun unsanft auf den Boden geholt worden.

2. Szene

Bild Die Partie ist weiter gegangen. Erneut steht Weiß vor der schwierigen Entscheidung, seinen Springer zurück zu ziehen oder den Gegner weiter unter Druck zu setzen. Ich dachte hier ca. 20 Minuten nach, wobei es sowohl um allgemeine Erwägungen ging, als auch um konkrete Variantenberechnung. Den Springer nach c2 oder b3 zurück zu beordern, kann einfach keinen Spaß machen – aber jede andere Entscheidung übernimmt eine sehr große Verantwortung. Letztlich war es wohl auch das Gefühl der mentalen Frische und Stärke, das mir den Mut zu einem spekulativen Springeropfer gab. Schließlich hatte ich den Gegner schon in der vorigen Szene aus dem Tritt gebracht – ein erneuter unerwarteter Schlag würde ihn weiter verunsichern.
Binder – Weyers, Berlin 2011, 2. Szene
Wir haben gesehen, dass die Entscheidung nicht ganz risikolos war und nebenbei einen Eindruck davon gewonnen, wie scheinbar sichere Einschätzungen das Denken des Spielers manchmal regelrecht blockieren.

Bild
3. Szene

Das Springeropfer war rein spekulativ und ich hatte mich in der Variantenberechnung darauf verlassen, dass in der Mehrzahl der wahrscheinlichen Entwicklungen Weiß weiterhin gute Chancen haben würde. Dabei ist die schwarze Rettung mit dem unorthodoxen g7-g6 beiden Spielern entgangen. Umso überraschender ist es, dass das Opfer – abgesehen von dieser Nuance – korrekt war. Ich hätte die Korrektheit in der nebenstehenden Position beweisen können. Diese Chance ließ ich leider verstreichen, hielt aber die psychologische Initiative weiter fest in der Hand.
Binder – Weyers, Berlin 2011, 3. Szene

4. Szene

Bild Inzwischen hat sich die Waage ganz klar zu meinen Ungunsten geneigt. wenn Schwarz in nebenstehender Position den stolzen Bauern e6 schlägt, wird er klar in Vorteil kommen. Würde man Guido diese Stellung unvoreingenommen zeigen, so findet er gewiss sofort die gewinnbringende Abwicklung. Doch in der praktischen Partie, wo er seit der Eröffnung ständig neue und überraschende Probleme zu lösen hatte, gelingt ihm dies nicht.
Bezeichnend dafür, wie hier die aktuelle mentale Verfassung das Spiel bestimmt ist es, dass ich die Widerlegung meines Spiels sehr wohl gesehen hatte, aber keine bessere Lösung mehr fand. Dennoch hatte ich das Selbstbewusstsein und die Zuversicht, auch hier noch glimpflich davon zu kommen.
Binder – Weyers, Berlin 2011, 4. Szene

5. Szene

Schwarz ist unter dem Druck ständiger und vor allem sehr vielgestaltiger Drohungen letztlich zusammengebrochen. Weiß hat über die gesamte Partie das Geschehen bestimmt, manchmal fernab von der schachlichen Wahrheit agiert. In den letzten Zügen – wir brauchen kein Bild mehr – wird die psychologische Initiative bewahrt, selbst als noch einmal ungeplant eine Figur verloren geht. Bis zum letzten Zug bestimmt unser Leitmotiv der psychologischen Initiative die Partie.
Binder – Weyers, Berlin 2011, 5. Szene

Binder – Schrodt, Potsdam 2009

1. Szene

Die nachstehende Partie spielte ich gegen einen sympathischen und schachlich leicht überlegenen Gegner. Das Turnier zum Jahresende 2009 verlief letztlich für uns beide sehr erfolgreich. Die turbulente Partie ist ein schöner Beleg dafür, wie der Übergang der psychologischen Initiative letztlich auch das schachliche Bild verändert.
In der Phase zu Beginn des Mittelspiels hatte ich ganz klar die mentale Spielführung an mich gerissen und griff mutig und entschlossen an.
Binder – Schrodt, Potsdam 2009, 1. Szene

Bild 2. Szene

Soweit ist alles zur Zufriedenheit von Weiß gelaufen. Ich habe eine schachlich leicht überlegene Stellung. Angesichts der vielen Drohungen gegen den schwarzen König ist die psychologische Initiative von Weiß wesentlich größer, als der objektive Positionsvorteil. Dies veranlasste Sebastian nun zu einer Entscheidung, die man zunächst als Panikreaktion betrachten kann, die jedoch den mentalen Verlauf der Partie völlig umkehrt.
Binder – Schrodt, Potsdam 2009, 2. Szene
Diese Sequenz zeigte sehr eindrucksvoll, wie nach dem überraschenden Damenopfer die psychologische Initiative auf meinen Gegner überging. Bei sehr ungewöhnlicher Materialverteilung und mit offener Königsstellung verlor ich die Kontrolle über die Partie. Auch mein Selbstvertrauen war dahin, als ich zweimal das mögliche Schlagen des Bauern c6 verschmähte. Noch fast 10 Züge lang hatte ich eine schachlich vorteilhafte Stellung, der mentale Druck ging aber vom Nachziehenden aus. Ich geriet ein wenig in Zeitnot und büßte nach einem einfachen Übersehen eine weitere Figur ein.

3. Szene

Vom weiteren Partieverlauf ist nur noch eine Situation interessant, in der ich die – unverdiente – Chance zum Remis bekomme, aber nicht erkenne. Auch solche Fehler sind am ehesten dadurch zu erklären, dass man das Selbstvertrauen verloren hat und dem Gegner alle Züge ungeprüft glaubt – psychologische Defensive in diesem Fall.
Binder – Schrodt, Potsdam 2009, 3. Szene
Im Gegensatz zur ersten Partie wurden wir hier Zeuge, wie die psychologische Initiative die Seiten wechselte und der schachliche Vorteil ihr sozusagen mit Verzug von 10 Zügen folgte. Ähnlich wie in der ersten Partie gab es auch hier Rettungschancen für den in die Defensive geratenen Spieler, die dieser aber ungenutzt verstreichen ließ.

Binder – Wiemann, Berlin 2011

Eröffnung

Diese Partie wurde in einem Mannschaftskampf gespielt. Beide Spieler standen also in der Verantwortung für das Team-Ergebnis. Nominell war ich sicher favorisiert und meine Stimmung besserte sich weiter, als mit dem angenommenen Morra-Gambit eine Eröffnung aufs Brett kam, in der ich mich gewöhnlich sehr wohl fühle. Für meine Gegnerin schien sie hingegen Neuland zu bedeuten. Bereits im 6. Zug verfiel sie in "ewiges" Nachdenken, brütete ca. 45 Minuten und machte dann den relativ selbstverständlichen Zug, mit dem wir in der Theorievariante blieben. Wie sie mir später erklärte, ist Frau Weimann mehr ein Typ, der auch in solch früher Partiephase taktische Varianten berechnet, statt sich auf allgemeine strategische Erwägungen zu verlassen. Dass sie in taktischen Verwicklungen sehr stark ist, werden wir später noch sehen – der Zeitverbrauch erwies sich aber noch als echtes Problem.

Bild Die Eröffnungsphase sieht die psychologische Initiative also ganz klar bei mir: Lieblingseröffnung, Vertrautsein mit den Merkmalen der Stellung, Angriffsideen, hoher Zeitvorsprung…
Da spielt es auch keine Rolle, dass ich im 7. Zug wissentlich die beste Fortsetzung ausließ, weil ich mich nicht genau an die Varianten erinnern konnte und einfach "zu faul" war, hier Rechenarbeit zu investieren. Schließlich würde ich auch mit dem Standardaufbau eine gute Stellung bekommen.

1. Szene

Nach Abschluss der Eröffnung war es nun Zeit, nach den taktischen Standardmanövern des Morra-Gambits zu schauen, z. B. dem Scheinopfer des Springers auf d5. Das wäre hier sogar schon früher gegangen, als üblich, weil Schwarz seine Königsstellung mit dem unglücklichen Zug des f-Bauern geschwächt hatte. Doch ich wählte unbeirrt eine Standardaufstellung und postierte beide Läufer sehr wirksam.
Binder – Wiemann, Berlin 2011, 1. Szene
Dass ein solcher erfolgreicher taktischer Schlag meine psychologische Initiative weiter verstärkte, dürfte sich von selbst verstehen. Zudem hatte ich ja Material gewonnen und nun eine schachlich klar vorteilhafte Stellung. Hinzu kommt, dass meiner sympathischen Gegnerin nur noch 12 Minuten für 20 Züge verblieben. Bei der späteren Analyse meinte sie zur Stellung nach 19.Sdxb5: "Hier schwante mir zum ersten Mal, dass ich ein Problem habe."

2. Szene

Bild Wenige Züge später ist das Bild auf dem Schachbrett weiter klar: Weiß steht auf Gewinn. Gerade habe ich meinen Turm auf die 7. Reihe gebracht. Schwarz kann den Bauern dort nicht verteidigen. Ich wähnte mich auf dem Weg zu einem schnellen und leichten Sieg. Die Gegnerin hat zuletzt ihren f-Bauern nach vorn gezogen und nun erspähte ich einen Turmgewinn. Wenn Weiß weiteres Material gewinnt, ist doch wohl alles klar.
Ich sollte aber schnell bereuen, mich nicht mit dem Bauern d7 begnügt zu haben.
Binder – Wiemann, Berlin 2011, 2. Szene
Ist dies eine Schattenseite psychologischer Initiative? War ich mir zu sicher des leichten Sieges? Jedenfalls ist der Stimmungswandel an dieser Stelle viel gravierender als die Veränderung auf dem Schachbrett. Von nun an wird nur noch Schwarz drücken und eine Siegchance suchen. Die psychologische Initiative geht an meine Gegnerin über – obwohl die schachliche Stellung dazu überhaupt keinen Anlass bietet.

3. Szene

Bild Es folgte eine Reihe von Zügen, die man im Nachhinein nur als irrational bezeichnen kann. Unter Opfer weiteren Materials setzte Lea alles auf eine Karte. Die psychologische Initiative ist längst zu ihr übergegangen. Ich wusste zeitweise gar nicht mehr, ob ich überhaupt noch besser stehe, selbst als sie nur noch einen Läufer für die Dame hatte. Freilich rettete mich schließlich die enorme Zeitnot der Gegnerin. 10 Züge vor der Kontrolle hatte sie noch etwa 15 Sekunden auf der Uhr, schließlich überschritt sie im 35. Zug die Bedenkzeit – just als ich die Partie endgültig zum Remis verdorben hatte.
Binder – Wiemann, Berlin 2011, Schluss der Partie
Das ist also noch einmal gut gegangen, wenn auch nur dank Mithilfe der Schachuhr. Letztlich entscheidet die Bedenkzeit, welche meine Gegnerin in der frühen Phase verbrauchte, als ich das Spielgeschehen diktierte. Später haben wir gesehen, dass auf geradezu irrationale Weise die mentale Herrschaft auf die Gegenseite wechselte, als dies durch die Stellung auf dem Brett noch überhaupt nicht gerechtfertigt war.




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Thomas Binder, 2011